Gibt man „Genuss“ bei Google ein, dreht sich bei den ersten Suchergebnissen alles ums Essen. Da werden Rezepte und Lebensmittel angepriesen, Slow-Food-Märkte und Genussführer, Listen mit regionalen Spezialitäten, mit denen man ganze Bücher füllen könnte. Aber ist Genuss nicht viel mehr als ein köstlicher Geschmack auf der Zunge?
Auch über Genuss lässt sich nicht streiten …
Genuss wird zwar zumeist als Resultat eines Sinneseindrucks definiert, allerdings ist es weithin bekannt, dass der Mensch fünf, sechs oder zehn Sinne hat – je nach Auffassung. Wie dem auch sei, Genuss ist keineswegs nur ein kulinarisches Erlebnis. Ein gelungenes Wohnungsdesign kann genauso eine Quelle von Genuss sein, umso mehr, wenn es zugleich bequeme Ecken zum Entspannen bietet. Auch Musik aus qualitativ starken Boxen kann durchaus ein Genusserlebnis darstellen. Aber was ist denn ein schönes Möbel, was ist gute Musik? Genussempfinden scheint eine genauso subjektive Angelegenheit zu sein wie unser Geschmack.
Allerdings reicht ein Sinneseindruck noch lange nicht aus, um etwas wirklich geniessen zu können. Was nützt uns der köstlichste Wein im teuersten Restaurant der Stadt, wenn wir ihn nicht zu schätzen wissen?
Genuss muss nicht teuer sein
Genuss ist also nicht in erster Linie an den eigenen Wohlstand geknüpft, sondern vielmehr an die Fähigkeit zum bewussten Erleben, zu Wertschätzung und Konzentration. Denkbar wäre allenfalls, dass wir Dinge, für die wir viel Geld ausgeben, auch bewusster wahrnehmen und diese daher auch mehr geniessen.
Genuss hat also eine psychische und durch und durch subjektive Komponente – auch wenn es bestimmte Dinge gibt, die wohl jede Schweizerin und jeder Schweizer mag – zum Beispiel Sonnenschein im Gesicht nach einem langen, kalten Winter.
Geschlechtsspezifisches Genussempfinden
Anscheinend nehmen wir die Sonnenstrahlen aber dennoch unterschiedlich wahr. Männer werden diese nämlich undifferenzierter und weniger ausgeprägt erleben. Zumindest, wenn man einer Studie des Nürnberger Instituts für Genussforschung glaubt, laut der Genuss eine geschlechtsspezifische Angelegenheit ist. Männer, die im Übrigen ein anspruchsloseres Genussempfinden besässen, genössen anscheinend Musik, Sport und Faulenzen am meisten, während Frauen voller Genuss einkaufen und wellnessen würden. Genderwissenschaftlerinnen böte diese Studie jedenfalls eine Menge Stoff für geniesserische Diskussionen über Klischees und Stereotypen.
Erworben oder angeboren?
Genauso bemerkenswert ist die Frage danach, ob Genussfähigkeit angeboren oder erworben ist. Während Sigmund Freud eher nativistisch zu argumentieren scheint, ist die Psychologieprofessorin Tanja Hoff da anderer Meinung: Genussfähigkeit werde sozial erworben und sei stark von der jeweiligen regionalen Mentalität beeinflusst. Was das wohl für die Genussfähigkeit der Schweizerinnen und Schweizer bedeutenden mag?
Ein Land voller regionaler Spezialitäten
Ein Blick auf die endlos scheinende Liste von Schweizer Spezialitäten genügt, um zur Überzeugung zu gelangen, dass die Genussfähigkeit des gemeinen Schweizers bei der Sozialisation keinesfalls zu kurz gekommen sein kann. Die international bekannten Klassiker – Käsefondue, Raclette, Rösti, Toblerone und so weiter – sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer tiefer in die Tradition der Schweizer Küche eintaucht, weiss: Die Walliser Zungen sind sogar soweit „sozialisiert“, dass sie neben Käse- und Schoggifondue auch Tomatenfondue zu geniessen lernten, und im Aargau hat man mit der Rüeblitorte eine Spezialität kreiert, die selbst Figurbewussten und Vitaminfreaks einen vollumfänglichen Kuchengenuss ermöglicht – mit Gaumen, Auge und gutem Gewissen. Und spätestens die zahlreichen Kur- und Ferienorte, die vielen Skilifte und Thermalbäder beweisen: Die Genussfähigkeit der Schweizerinnen und Schweizer ist keineswegs auf Kulinarisches beschränkt.
Text: Sonja Fischer, Bestswiss